SPD-Krise: Abstieg einer Volkspartei

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Jörg Sartor ist ein Schöpfer besonderer Worte. Den damaligen SPD-Spitzenkandidaten in Nordrhein-Westfalen, Thomas Kutschaty, nannte er mal einen „Schablonenschwätzer“. Diejenigen, die über Tage gearbeitet haben: „Sonnenanbeter“. Er selbst hat bis zu 1400 Meter unter Tage malocht. Sartor, Autor des Buches „Schicht im Schacht“, Ruhrgebiet-Original und seit mehr als 20 Jahren Chef der Essener Tafel, ist zweifelsohne ein guter Seismograf, wenn es um die Frage geht, warum die SPD vielleicht in der tiefsten Krise ihrer Geschichte ist.

Das Jahr 2026, mit fünf Landtags- und drei Kommunalwahlen, wird wegweisend. Sartor war selbst Sozialdemokrat, ist aber ausgetreten. Er hat eine rote Fleecejacke an, er klopft immer wieder mit der Faust auf den Tisch, Temperament ist bei ihm auch mit 69 Jahren immer dabei. Neben dem Büro, in der Halle, werden Lebensmittel an Bedürftige ausgegeben. 1850 Kunden gibt es, rund 1000 Bürgerinnen und Bürger stehen auf der Warteliste.

Jörg Sartor ist seit mehr als 20 Jahren Chef der „Essener Tafel“. Aus der SPD ist er ausgetreten.
Jörg Sartor ist seit mehr als 20 Jahren Chef der „Essener Tafel“. Aus der SPD ist er ausgetreten. (Foto: Fabian Strauch/picture alliance/dpa)

Sartor bekam 2018 einiges an Anfeindungen, als die Tafel mangels Kapazitäten keine zusätzlichen Ausländer als Kunden aufnehmen wollte; das wurde Sartor verkürzt als genereller Aufnahmestopp für Ausländer ausgelegt. Gerade aus der SPD kam scharfe Kritik, vor allem von der damaligen Bundesfamilienministerin Katarina Barley. Sartor wählte daraufhin erstmals nicht mehr die SPD. „Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. Aber die Realität ist für jeden anders“, sagt er. Er vermisst in der SPD heute die Nähe zu den Leuten. Er sieht viel zu viele Akademiker, zu viel Ideologie, zu wenig echtes Problembewusstsein.

Der Essener „Tafel“-Chef ist enttäuscht von Arbeitsministerin Bas

„Wer hier dreimal unentschuldigt bei der Lebensmittelausgabe fehlt, fliegt raus“, sagt Sartor. Neulich seien Mitarbeiter vom Jobcenter bei der Tafel zu Besuch gewesen, und die hätten gesagt, sie wünschten sich, dass sie das auch so machen könnten. Die SPD und der Kampf gegen zu harte Sanktionen beim Bürgergeld, das künftig Grundsicherung heißen soll, ist ein Dauerthema. Die Politik und vor allem das Vertrauen in die SPD hat sich für Jörg Sartor immer auch über prägende Köpfe vermittelt. Er hatte große Hoffnungen in die SPD-Vorsitzende und Arbeitsministerin Bärbel Bas gesetzt, auch für große Reformen. Jetzt sagt er: „Ich glaube der Bas nicht mehr, dass sie die Lage für Deutschland verbessern will, sie will nur ihre Ideologie durchsetzen.“

Nina Gaedike, Juso-Chefin in Nordrhein-Westfalen, hat sich letztens direkt mit Bas angelegt, aber aus einem anderen Grund: Ihr gehen schon die Verschärfungen beim Bürgergeld zu weit. Die SPD mag von dem Wähleranteil nicht mehr Volkspartei sein, aber von der Spannbreite der Meinungen ist sie es sicher noch.

Nina Gaedike ist Juso-Chefin in Nordrhein-Westfalen, hier zu sehen bei einer Rede am Bundesparteitag der SPD im Dezember 2023.
Nina Gaedike ist Juso-Chefin in Nordrhein-Westfalen, hier zu sehen bei einer Rede am Bundesparteitag der SPD im Dezember 2023. (Foto: IMAGO/dts Nachrichtenagentur)

Gaedike sagte beim Juso-Bundeskongress, die Pläne für das Bürgergeld seien ein „Drecksentwurf“, sie sprach von der „Scheiß-Union“ und rechnete mit Bundeskanzler „Fritze“ Merz ab. Danach hagelte es Anfeindungen, über 200 E-Mails, bis hin zu Kritik an ihrer Brille. „Mir wurde eine Gossensprache vorgeworfen und alles Schlechte dieser Welt gewünscht.“ Aber sie stehe zu allem – und ihre Brille liebe sie. Gaedike hat gegen den Koalitionsvertrag gestimmt und ist Unterzeichnerin des Mitgliederbegehrens, das die Abwicklung des Bürgergelds noch stoppen will.

Gaedike sitzt in Düsseldorf in ihrem Büro im Johannes-Rau-Haus.  Als der hier noch Ministerpräsident war (1978–1998), hieß er mit Zweitnamen „Landesvater“. Zu seiner Zeit schaltete die SPD Anzeigen wie „Warum mögen wir in Nordrhein-Westfalen unseren Ministerpräsidenten? – Weil Johannes Rau uns hier mag und für unser Land erfolgreich ist.“ Politik konnte früher so einfach sein.

Die Berliner Koalition triggert die Juso-Chefin

Heute kennt kaum jemand die Namen der SPD-Chefs in NRW und anderswo. Hinter Gaedike auf dem Schrank steht eine weiße Karl-Marx-Büste und das Buch „Triggerpunkte“ des Soziologen Steffen Mau. Sie triggert vor allem diese Koalition in Berlin. Da will die SPD-Spitze zum einen mit Sozial- und Wirtschaftsreformen Wähler in der Mitte zurückgewinnen, zum anderen gibt es viele Funktionäre, die wie Gaedike lieber stärker nach links rücken wollen. Auch das macht es der Partei so schwer, zumal Vizekanzler Lars Klingbeil seit der Abstrafung beim Parteitag mit Vertrauensproblemen zu kämpfen hat. Was lässt sich durchsetzen, wenn der Widerstand so groß ist?

„Wir haben bei den Fragen von Umverteilung nichts durchgesetzt im Koalitionsvertrag und uns auf Dinge wie das Sichern des Rentenniveaus konzentriert“, kritisiert Gaedike, die fast so schnell spricht wie Heidi Reichinnek von der Linkspartei. „Einkommen aus Lohnarbeit wird viel zu stark besteuert. Das ist ungerecht.“ Auch wenn die Union das ablehnt, als Erstes müssten zur Finanzierung der Renten künftig auch Kapitalerträge und Mieteinnahmen herangezogen werden. „Auf jeden Fall muss das kommen.“

Gaedike arbeitet als Jugendbildungsreferentin beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), im Bereich Prävention sexualisierter Gewalt, zudem studiert sie noch auf Master Gender Studies in Bielefeld. Richtig in Rage reden kann sie sich bei Themen wie der Stadtbild-Debatte. „Es gibt keinen systematischen Einfluss von Migration auf Kriminalität“, betont Gaedike. Es sei Unsinn zu glauben, es „würde alles wieder tutti“, wenn die SPD auch nach rechts rücken würde. Und wie lautet ihr Rezept, um Wähler von der AfD zurückzugewinnen? „Zum Beispiel mit konkreten Dingen, mit denen die Leute mehr Geld in der Tasche haben. Wie eine Senkung der Kita-Gebühren wie in Hamm.“ Und es brauche höhere Steuern für Superreiche, „um Steuersenkungen für kleine und mittlere Einkommen zu ermöglichen“.

Wunsch nach mehr Mitsprache für Leute von der Basis

Deutlich näher bei Sartor als bei Gaedike ist Ali Kaan Sevinc, Vorsitzender des SPD-Ortsvereins in Essen-Frohnhausen/Altendorf. Er vermisst Rezepte, wie der massive Abbau von Arbeitsplätzen in der Industrie gestoppt werden kann. „Die SPD hat auch keine Lösung parat, wieso so viele Wähler von der SPD zur AfD abwandern“, sagt er bei einem Treffen in einem Café. Wenn man das sage, werde man schnell in der SPD in die rechte Ecke gestellt. Er verweist auf Themen wie Migration, Vermüllung, Sicherheit und Daseinsvorsorge. Und natürlich auf die Auswirkung von Rezession und Inflation aufs Portemonnaie.

Der Wirt in seiner Stammkneipe „Start und Ziel“ sage: Gebt den Leuten Arbeit und Geld zum Konsumieren, dann steige auch die Zufriedenheit. Viel werde entscheiden, ob man das Thema Sozial- und Krankenkassenbeiträge in den Griff bekommt und ob die versprochene Entlastung für untere und mittlere Einkommen eingelöst wird. Sevinc würde sich zudem wünschen, dass in Berlin viel mehr die „Kommunalos“, die Bürgermeister, also die von der Basis, eingebunden und vor allem gehört würden. Und es würde der SPD guttun, wenn sie mehr Quereinsteiger hätte. „Ich würde mir wünschen, dass die SPD viel mehr Leute aus dem Leben nimmt und nicht immer mehr der Satz gilt – Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal.“

Er landet dann beim Thema Köpfe, Wahlen seien heute zunehmend Personenwahlen, gerade würden ja wie in Berlin mit Franziska Giffey und Martin Hikel noch die Hoffnungsträger abgesägt. Er zeigt zum Ende des Gesprächs noch die neue Kampagne der NRW-SPD „verstanden.nrw“, wo die Bürger mal so richtig der SPD ihre Meinung geigen sollen. Auf der Startseite ist Johannes Rau im Video zu sehen. Eine Stimme sagt aus dem Off mit Blick auf das aktuelle Erscheinungsbild der Partei: „Johannes Rau hätte uns den Hals umgedreht.“

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