Extremklettern: Wenn Alex Honnold in Taipeh abstürzt, kann ihm die ganze Welt dabei zuschauen

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 Irrwitziger Selbstversuch

Fassade des Taipei 101: Irrwitziger Selbstversuch

Foto: Joko / IMAGO

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Als der Kletterprofi Alex Honnold kürzlich bei einem Interview gefragt wurde, warum er kommenden Januar statt einer Felswand einen 508 Meter hohen Wolkenkratzer in Taipeh erklimmen wolle, ein Konstrukt aus Stahl und Glas, antwortete der Extremsportler aus Kalifornien kurz und knapp: »Warum nicht?«

Und damit war eigentlich alles gesagt.

Honnold macht schon sein Leben lang Sachen, die andere Menschen niemals tun würden. Der Bergsteiger aus Sacramento hat die schwierigsten und gefährlichsten Wände der Welt bezwungen.

 Maximaler Thrill

Alex Honnold am El Capitan: Maximaler Thrill

Foto:

Jimmy Chin / AFP

Berühmt wurde Honnold im Jahr 2017. Er durchstieg damals allein und ohne Sicherung eine 884 Meter lange, fast senkrechte Route am El Capitan im Yosemite-Nationalpark.

Honnold ließ sich bei dem irrwitzigen Selbstversuch filmen. Die Dokumentation »Free Solo« wurde zum Kino-Kassenschlager und gewann sogar einen Oscar.

Jetzt hat Honnold ein neues Nervenkitzel-Projekt gestartet, das ihm wohl abermals ein großes Publikum bescheren wird.

Er will den Taipei 101, ein Hochhaus-Koloss mit 101 Stockwerken in Taiwans Hauptstadt Taipeh, ungesichert hinaufklettern. In Kletterkreisen nennt man das Free Solo. Wie einst am El Capitan wird es kein Seil oder andere Hilfsmittel geben, die einen Absturz verhindern könnten.

 Koloss aus Stahl und Glas

Taipei 101 in Taipeh: Koloss aus Stahl und Glas

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Jimmy Beunardeau / Hans Lucas / picture alliance

Der Stunt wird, produziert von Netflix, live im Internet übertragen. Kameras werden am 23. Januar aus allen Perspektiven festhalten, wie Honnold die senkrechte und in vielen Bereichen sogar stark überhängende Fassade hinaufklettert wie ein Insekt.

Es ist ein Echtzeit-Event, das maximalen Thrill verspricht – oder maximalen Horror?

Denn wenn Honnold abstürzt, kann ihm möglicherweise auch dabei die ganze Welt zusehen.

Es gibt nicht viele Kletterer, die sich die Königsdisziplin Free Solo zutrauen. Man benötigt enormes Können, Kraft, Körperbeherrschung, Fitness – und eine stabile Psyche.

Honnold hat das alles. Er klettert mit großer Selbstverständlichkeit in senkrechten Wänden. Alles sieht leicht, spielerisch aus.

Er sagt, er liebe es, in den Abgrund zu schauen.

 Ohne Seil und Sicherungen

Honnold beim Free Solo: Ohne Seil und Sicherungen

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Renan Ozturk / Red Bull Content / AFP

Honnold blickt generell ziemlich nüchtern auf seine Extremkletterei. Vor Jahren erzählte er einmal, ihm wäre es lieber, bei einem Unfall zu sterben, als knapp zu überleben und danach ein körperliches Wrack zu sein. Deshalb steige er lieber sehr hohe Wände hinauf. Denn da falle man tiefer.

»Im Grunde genommen musst du dafür sorgen, dass du stirbst, wenn du abstürzt«, sagte der Extremsportler.

Honnold wäre nicht der Erste, der den Taipei 101 besteigt. An Weihnachten 2004 kletterte der französische Gebäudekletterer Alan Robert die Fassade hinauf, allerdings am Seil gesichert.

Honnold: »Es geht um mein Leben«

Honnold ist noch nie auf ein Hochhaus geklettert. Das Experiment reize ihn, sagt er. »Die Herangehensweise ist im Grunde dieselbe. Klettern ist Klettern, man versucht, konzentriert zu bleiben und nicht abzustürzen.«

In einer Felswand muss Honnold unterschiedliche Klettertechniken und Kletterbewegungen kombinieren, um hinaufzugelangen. Am Taipei 101 geht es für ihn darum, beim Klettern an der Fassade die immer gleichen Züge und Tritte hundertfach zu wiederholen, bis er oben angekommen ist.

»Die Bewegungsabläufe sind etwas anders, da die Gebäude viel eintöniger sind; es sind immer wieder dieselben Bewegungsmuster«, sagt Honnold.

Es gehe weniger um Kletterkunst, eher um Kraft und Ausdauer.

 »Man versucht, konzentriert zu bleiben und nicht abzustürzen«

Extremsportler Honnold: »Man versucht, konzentriert zu bleiben und nicht abzustürzen«

Foto: Jimmy Chin / AP

Honnold sagt, er werde nervös sein, wenn es losgeht. Während des Kletterns gehe es dann darum, die Angst zu beherrschen.

Aber wie macht man das an einem schier endlosen Abgrund?

Honnold hat dafür seine ganz eigene Technik. Angst fühle sich bei ihm oft ähnlich an wie Aufregung oder Nervosität, oder einfach »wie ein kribbelndes Gefühl. Sagen wir, eine gewisse Unruhe«, erklärte er neulich in einem Interview.

Eine Möglichkeit, mit Angst besser umzugehen, sei, das Gefühl der Angst einfach zu akzeptieren und cool zu bleiben. »Ich kann darauf achten oder nicht – es kann etwas bedeuten oder nicht. Aber nur weil man etwas im Körper spürt, heißt das nicht unbedingt, dass es das eigene Handeln beeinflusst.«

Honnold glaubt nicht, dass das zu erwartende Millionenpublikum für ihn zu einer Belastungsprobe werden könnte. »Es geht um mein Leben – mir ist es egal, wer zuschaut. Mir geht es darum, meine Aufgabe zu erfüllen«, sagt er.

 Klettern als Show

Wolkenkratzer Taipei 101: Klettern als Show

Foto: Chon Kit Leong / Pond5 Images / IMAGO

In Bergsteigerkreisen wird sein Vorhaben kontrovers debattiert. Für Honnolds Reputation in der Bergsportwelt spielt der Versuch am Taipei 101 keine Rolle. Dort winkt man die Kletterei durch als absurde Show, die vor allem Schaulustige anziehen würde.

Heftig kritisiert wird die geplante Live-Übertragung des Spektakels. Honnold und Netflix würden damit eine Grenze überschreiten.

Denn wie weit darf Unterhaltung gehen? Der Trick beim Free Solo ist, dass die eigenen Kletter-Fähigkeiten weit über den Schwierigkeiten der gewählten Route liegen. Honnold würde in den Tower nicht einsteigen, wenn ihn die Aufgabe überfordern könnte.

Aber was, wenn er doch fällt? Vermutlich hat Netflix dieses Szenario berücksichtigt und die Übertragung so geplant, dass das Publikum im Falle eines Unfalls die Bilder nicht sehen kann. Dennoch werden hitzige Debatten folgen um die Frage, ob Kameras überhaupt dabei sein dürfen, wenn ein Mensch sein Leben riskiert.

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