Wer wissen will, wie es um uns späte Mitdreißiger bestellt ist, der kann Instagram angucken oder Beziehungskolumnen lesen. Der kann aber zur Abwechslung auch mal wieder ins Theater gehen. An jenen Ort, an dem die Zeit ihre Spuren hinterlässt und gleich wieder verwischt. Wo man in manchen magischen Momenten genau versteht, wovon wir gerade sprechen, wenn wir Leben sagen und woran wir scheitern, wenn wir versuchen, es richtig zu führen.
Noah und Jasmin sind an diesem Abend unsere Scheiterstellvertreter. Im Studio R des Berliner Maxim Gorki Theaters sitzen sie auf dem Boden und schauen sich schauernd staunend an. Um sie herum nichts als ein paar Lichterketten und Lautsprecher. Und eine Geschichte. Ihre Geschichte. Unsere Geschichte.
Alles beginnt mit betrunkenem Sex
Sie beginnt mit betrunkenem Sex hinter einem Toilettencontainer, auf irgendeiner Berliner Party, nach irgendeinem Lied. Jasmin macht das Aneinanderklatschen der beiden Körper nach, ihm ist das peinlich. Peinlich vor allem, weil ihre Geschichte so beginnt, als wäre sie nie auf Fortsetzung aus gewesen. Aber genau das geschieht. Mehr oder weniger „aus Versehen“, der Sex verlagert sich vom abenteuerlichen Zwielicht in die matt ausgeleuchtete Sphäre der eigenen vier Wände, dann kommen die Kinder, dann kommt der Umzug aufs Land. Mit Benjamin-Blümchen-Hörbüchern gewappnet, fährt die junge Familie nach Brandenburg, ersteigert dort das Haus eines Neonazis, macht sich Gedanken über den Baumbeschnitt. Und dann?
Weißes Top auf nackter Haut
Dann vergehen sechs Jahre. Sechs Jahre, in denen die Körper schlaffer und die Worte härter werden. Jasmin, die aus einer Welt kommt, in der „Onkel Hussein“ abgeschoben wurde, kann sich nicht an die deutsche Provinz gewöhnen und sieht überall „Faschos“, die ihre Sicherheit gefährden: „Wir laufen mit Fadenkreuzen auf dem Rücken durchs Dorf“, ruft sie bitter und verschränkt die Arme vor dem weißen Top, das sie aus Protest gegen die Spießigkeit ihrer Umgebung auf nackter Haut trägt.
Noah hingegen will den Platz nicht jenen überlassen, die „Deutschland den Deutschen“ brüllen. Er will bleiben und im Kleinen etwas bewirken. Am Anfang, als die klare Landluft noch „flasht“ und sie die Nachbarn zum Grillen einladen, da sagt Noah noch sehr oft „total“, da hofft er noch darauf, dass die Berliner Freunde ihrem Beispiel folgen werden. Der Traum von der kleinen Kommune auf dem Land – der platzt. Und mit ihm die Vorstellung, dass ein junges Familienleben heute auch mit politischen Vorzeichen zu versehen sei. Mit der Vorstellung in Einklang zu bringen wäre, dass die Präsenz allein schon das Potential des Widerstands in sich trägt. Dass die physische Anwesenheit derer, die an ein Leben in Freiheit glauben, dort, wo die Kreise jetzt immer enger gezogen werden, die Entwicklung, wenn nicht aufhalten, so doch zumindest irritieren könnte. „Es ist leicht auf einer Berliner Demo ‚Nazis raus‘ zu brüllen“, sagt Noah, „aber hier geht es darum, ihnen nicht das Feld zu überlassen.“
Bitte keine „white tears“: Jonas Dassler als Noah und Aysima Ergün als JasminUte LangkafelDas sind auf den ersten Blick ziemlich schnelle Sätze ohne Hall und Hürde. Aber sie fallen eben wirklich genauso, in diesem Moment, in einem jener kostspielig restaurierten Landhäuser von Berlinern. Und vielleicht entgegnet eine Jasmin einem Noah dort gerade wirklich: „Oh, bitte, keine white tears“. Und meint damit: Am Ende bist du eben doch einer von denen und nicht von uns.
Das sind jetzt die Szenen unserer Ehen. Die Identitätsfrage ist heute das, was zu Ingmar Bergmans Zeiten die Eifersucht war. Damit scheint man nun weniger Probleme zu haben. Stattdessen ist die Sichtbarkeit zum entzweienden Faktor geworden. Leiden statt Leidenschaft. Wessen Wunde wirkt wichtiger?
Der 1992 geborene Marco Damghani verantwortet an diesem eindrucksvollen Abend Text und Regie, der 1996 geborene Jonas Dassler zeichnet das nach, was aus dem deutschen Idealisten geworden ist, und die 1994 geborene Aysima Ergün spielt jenen Typus der migrantischen Kippfigur, die bis auf Weiteres halb Ja und halb Nein zu Deutschland sagt. Einmal singen die beiden mit ihren jungen schönen Stimmen ein altes türkisches Volkslied – für einen Augenblick scheint da die Zeit innezuhalten und zu erwägen, ob sie diese Spur nicht doch hinterlassen will. Aber dann wischt sie weiter, und wir wischen mit.

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