„Nimm nichts von Deutschen“: Diese erste Lektion im Umgang mit Geschichte hat Alicja schon als Kind gelernt. Sie sollte Jahre brauchen, um zu begreifen, dass diejenige, die sie ihr erteilt hat, ihre Großmutter Janka, alles, was in ihrem eigenen Leben wichtig war, den Deutschen verdankt, sich von ihnen gewissermaßen geholt hat – von Anfang an fest entschlossen, sich nicht einfach von den Wirren der Ereignisse mitreißen zu lassen, sondern ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Die beiden Frauen sind Hauptprotagonistinnen von „Die Tiefe“, dem Debütroman der polnischen Theaterautorin Ishbel Szatrawska, der auf zwei Zeitebenen spielt: während des Krieges beziehungsweise in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in der Gegenwart. Als die Handlung einsetzt, ist Alicja kein Kind mehr, sondern bereits über vierzig. Sie wohnt (ähnlich wie die Autorin) in Krakau, ist Anthropologin und arbeitet an der Jagiellonen-Universität, doch sonderlich zufrieden ist sie mit ihrem Leben nicht. Zu den geschiedenen Eltern, dem fünfundsiebzigjährigen Wolf, Jankas Sohn, der nach Schottland ausgewandert ist, und seiner Ex-Frau, die aus dem Krakauer Bürgertum stammt und ihrer Heimatstadt die Treue hält, hat sie ein angespanntes Verhältnis. Von ihrem Freund Jarek weiß sie nicht einmal, ob sie ihn so bezeichnen kann, weil er ständig eigene Wege geht. Und ihre wissenschaftliche Karriere gerät auch immer wieder ins Stocken.
Forschung über sexuelle Gewalt an Frauen im Zweiten Weltkrieg
Zu Beginn des Romans spitzt sich diese Situation noch einmal zu: Zum einen beschließt Jarek, an die polnisch-belorussische Grenzen zu fahren, um den dort ankommenden Flüchtlingen zu helfen. Zum Zweiten erfährt Alicja, dass sie mit keinen weiteren Mitteln für ihre Forschung über sexuelle Gewalt an Frauen im Zweiten Weltkrieg rechnen soll, und sie ahnt, dass diese Entscheidung der Universitätsbehörden – es geht auch um Gewalt an deutschen Frauen – politisch motiviert ist. Zum Dritten schließlich will Wolf aus Schottland kommen, um Jankas Haus, in dem seit Langem niemand wohnt, das Alicja aber unbedingt behalten will, zu verkaufen.
Ishbel Szatrawska: „Die Tiefe“. Roman.Voland & QuistWolfs Verkaufspläne nutzt Szatrawska, um die Geschichte der Großmutter Janka zu erzählen. Oder zumindest den Teil dieser Geschichte, der von ihrer Ankunft in dem besagten Haus im ehemaligen Ostpreußen an spielt. Denn was sie in der Gegend um Vilnius, woher sie mit ihren Eltern gekommen ist, erlebt hat, behält sie für sich. Janka konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt, das genug Herausforderungen mit sich bringt. Der Krieg ist zu Ende, es herrscht Chaos, und das Haus selbst wirkt, als wäre es gerade von jemandem in größter Eile verlassen worden. Als irgendwann sein deutscher Besitzer Horst Kruschka, ein mürrischer, einbeiniger Veteran des Ersten Weltkriegs, auftaucht und später auch noch dessen Sohn Max dazustößt, bilden sie alle eine ungewollte und alles andere als harmonische Wohngemeinschaft. Die Spannungen nehmen noch zu, als Janka und Max ein Verhältnis beginnen und bald ein Kind (Wolf) erwarten. Das Zusammenleben der fünf endet mit dem Einmarsch der Sowjets genauso plötzlich, wie es angefangen hat.
Königsberg um 1945
Am dramatischsten – und interessantesten – ist aber der Teil des Romans, der etwas früher spielt, während der letzten Tage von Königsberg, wo Max als Chirurg Seite an Seite mit Hans von Lehndorff (dem Autor des berühmten „Ostpreußischen Tagebuchs“) in einem Frontlazarett arbeitet. Der Angriff der Roten Armee markierte ja nicht nur den Untergang der Stadt, sondern auch das Ende von ganz Ostpreußen, einer Provinz, die vor dem Krieg fast 2,5 Millionen Einwohner zählte und in der jahrhundertelang neben der deutschen Mehrheit Polen, Litauer und Masuren lebten. Bis ihr Gebiet 1945 zwischen der Sowjetunion und Polen aufgeteilt wurde.
Während des Kommunismus wurde über diesen Zusammenbruch gar nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen – was für Menschen wie die 1981 in Olsztyn (Allenstein) geborene Ishbel Szatrawska immer öfter ein Anreiz ist, sich mit ihm literarisch auseinanderzusetzen. Sie selbst bezeichnet sich sogar als Ostpreußin, was offenbar aber nur zum Teil eine Verbeugung vor der Geschichte ihrer Region ist. Die humanitäre Krise im östlichen Grenzgebiet Polens, die nicht zuletzt dank Agnieszka Hollands Film „Green Border“ für heftige Diskussionen sorgte, sei für sie der unmittelbare Impuls gewesen, ihren Roman zu schreiben. Die Selbstbezeichnung als Ostpreußin ist also wohl auch eine Anspielung auf die Gegenwart, auf die vielen Konflikte, auf den möglicherweise bevorstehenden neuen Weltkrieg – als wollte sie sagen: „Ostpreußen lebt, hat heute nur einen anderen, wechselnden Namen.“
Sie denke übrigens oft über dieses vererbte Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Grenzland nach, sagt Szatrawska; sie nennt es eine „fließende Identität“. Früher habe sie das verunsichert, heute sei es für sie ganz natürlich: „So ist die Welt nun mal. Wir alle migrieren und vermischen uns bis zu einem gewissen Grad.“ Der Roman „Die Tiefe“ ist also kein autobiographischer, obwohl sie manches, so Szatrawska, ihrer Familiengeschichte verdanke. Es ist vielmehr eine labyrinthische Identitätsprosa, die einerseits oft in Phantasiewelten abdriftet, die zwischen Mythen, Träumen und Erinnerungen angesiedelt sind und in denen eine Vermischung von baltischen und biblischen Motiven (Aale und Äpfel) oder eine Abwandlung historischer Gestalten (kopflose Kreuzritter) dem Leser Rätsel aufgeben. Und die andererseits stark in konkreten Realien verortet ist und sich mit Themen wie Kriegserfahrung und Neuanfang, Hineinwirkung von Geschichte in die Gegenwart oder eben Grenzland und Identität auseinandersetzt.
Dementsprechend ist Szatrawskas von Andreas Volk sehr präzise übersetzte Sprache, mal persönlich und kraftvoll, mal leise, poetisch, voller Symbole und Metaphern, die immer wieder um die titelgebende Tiefe kreisen. Ob es sich dabei um das Wasser in den masurischen Seen oder um den Strudel der Geschichte handelt, ist fast nebensächlich – in beiden Fällen gilt es ja, sich nicht hineinziehen zu lassen, um jeden Preis an der Oberfläche zu bleiben.
Ishbel Szatrawska: „Die Tiefe“. Roman. Aus dem Polnischen von Andreas Volk. Verlag Voland & Quist, Berlin 2025. 464 S., geb., 28,– €.

vor 2 Tage
4






English (US) ·