Maria Lazar gehört zu den großen Wiederentdeckungen der deutsch-jüdischen Literatur. Wie schon bei Friedl Benedikt, Ulrich Alexander Boschwitz, Veza Canetti oder Paul Zifferer verdanken wir das vor allem Zufällen und Finderglück. In diesem Fall ist es der Wiener Verleger Albert C. Eibl, der sich mit Ausdauer um den bei Lazars Enkeltochter in Nottingham aufgetanen und inzwischen an die Österreichische Exilbibliothek im Literaturhaus Wien vermachten Nachlass kümmert. Seit 2014 erscheinen ihre Werke in Eibls Verlag „Das vergessene Buch“. Zuletzt kamen 2024 die Theaterstücke heraus, an denen Simon Strauß im Nachwort den „Sarkasmus“ und die „scharfkantige Sprache“ lobt; die in dichte Szenen gesetzte Politik sei höchst aktuell.
Robert Musil erkannte ähnliche Qualitäten schon in Lazars Debütroman „Die Vergiftung“ (1920) und würdigte den guten Blick wie die „Kraft des Figuralen“. Wenig später schrieben Lazar und er Feuilletons für die Wiener Zeitung „Der Tag“. Doch beider Bekanntschaft entstand bereits im Salon der Eugenie Schwarzwald, wo Lazar auch mit Peter Altenberg, Hermann Broch, Elias Canetti, Egon Friedell oder Jakob Wassermann zusammentraf. Zuvor besuchte sie Eugenie Schwarzwalds reformpädagogische Schule in Wien, wo Oskar Kokoschka zu ihren Lehrern zählt. 1916 porträtierte der sie mit einem Papagei in der Hand.
Eine bizarre Hausgemeinschaft
Vor ihrem dänischen Exil von 1933 an – mit Bertolt Brecht und Helene Weigel bei Karin Michaelis auf der Insel Thurø und von dort weiter nach Stockholm (durch eine kurze Ehe mit Wedekinds Sohn Friedrich Strindberg hatte sie die schwedische Staatsbürgerschaft erlangt) – organisierte Lazar Lesungen für Canetti: erst aus der „Blendung“ in der Schwarzwald-Schule, dann in ihrer Wohnung aus dessen Drama „Hochzeit“. Dieses Stück über eine bizarre Hausgemeinschaft, die einer im Dachgeschoss lebenden alten Dame ihre Immobilie abluchsen will, zeigt auch Gemeinsamkeiten mit einigen der jetzt vorgelegten Erzählungen Lazars. Vor allem ähneln sich Schauplätze, groteskes Personal, soziologischer Blick und die Liebe zum Absurden. Das gilt zugleich für die Bewohner in Veza Canettis kurzen Erzählungen „Die Gelbe Straße“, die etwas früher entstanden und ebenfalls unter Pseudonymen in Zeitungen erscheinen.
Maria Lazar: „Gedankenstrahlen“. Erzählungen und Short Stories.Verlag Das vergessene BuchLazar publizierte zwischen 1937 und 1942 unter dem Namen Esther Grenen in der Basler „National-Zeitung“ und deren „Sonntags-Beilage“, im Exil dann auch in den dänischen Blättern „Social-Demokraten“, „Arbejderens Almanak“ und „Berlingske Tidende“. Eibl hat 31 Erzählungen für seinen jetzt erschienenen Auswahlband zusammengestellt, einige davon sind Erstpublikationen. Die in dänischen Zeitschriften abgedruckten Texte folgen den deutschen Originalen aus dem Nachlass.
Das feudale Gespenst einer abgestorbenen Vergangenheit
Zurück zu den Hausgeschichten, die an die Baroninnen, Trafikantinnen, Bedienerinnen, Hausbesorger, Geldboten, Familientyrannen, Gelehrten und wirklichkeitssüchtigen Dichter der beiden Canettis erinnern. Lazar eröffnet ein ähnlich breites Spektrum an sozialen Typen, Außenseitern, Hochstaplern und psychisch Deformierten. Da ist etwa eine einsame alte Baronin, die in einem guten Viertel zu erstaunlich niedrigen Preisen Zimmer an „Ausländer“ vermietet. Doch sie entpuppt sich als das „feudale Gespenst einer abgestorbenen Vergangenheit“. In ihrem fürstlichen Haus werden alle Bewohner überwacht und reglementiert, bis ein junger Russe sie – „aus Prinzip“ – erschlagen will. So verleiht er sich und der Geschichte den Beinamen „Raskolnikow“. In einer anderen Wohnung kommen zwei ältere verwitwete Menschen aufgrund einer Kontaktanzeige zusammen, erkennen sich als Verliebte aus ihrer Jugendzeit wieder und finden dann, so der Titel, ihr „Bescheidenes Glück“.
In einem anderen Stockwerk wohnt eine schon etwas verblühte Klavierlehrerin Wand an Wand mit einem kranken Jungen, der so das Phantom eines musikalischen „Fiebermädchens“ entwickelt. Von einem endlich hinübergeschickten rot lackierten „Mannequin“ ist er aber abgestoßen und verliebt sich im Erholungsheim stattdessen in eine ältere rundliche Krankenschwester. Anderswo wird in einem Hotel ein schüchterner Angestellter, der sich eigentlich „auf den Nebengeleisen des Lebens“ bewegt, ähnlich unfreiwillig zum akustischen Zeugen eines erpresserischen Mords im Nebenzimmer. Als er auch noch eine auf dem Flur erblickte Frau verschweigt, macht er sich zum „Mitschuldigen“, den die Unbekannte in eine Ehe zwingt. Das ist ähnlich surreal wie die Geschichte „Ein ernsthafter Leser“, der einen Krimiautor zur Rechenschaft ziehen will, da die in seinem Buch beschriebene Tötungsmethode mit Pfirsichkernen versagt hat.
Die „Bewunderung für abseitige Naturen“ und die „spitze, springende Weise“ ihrer Darstellung, die Canetti seiner Frau Veza attestiert hat, trifft genauso auf Lazar zu. Es gibt aber auch Texte, die darüber hinausgehen. „Ein harmloser Mensch“ ist beispielsweise eine (bislang unveröffentlichte) scharfe Satire auf Volksgenossen der ersten Stunde: Der kleine Stadtbibliothekar Karl Lehmann besorgt sich gleich nach der „Machtübernahme“ eine Hakenkreuzfahne, hängt ein Bild des „Führers“ übers Ehebett, nimmt die Entlassung eines Kollegen wegen eines Witzes und seines aufrecht demokratischen Chefs einfach hin, besucht Vorstellungen der Hitlerjugend. Zwar bemerkt er im Spiegel die eigene Verwandlung in eine „Bestie“, das hält ihn aber nicht davon ab, seinen jüdischen Nachbarn die Treppe hinunterzustoßen, als dieser ihm ein seltenes Stück für seine Briefmarkensammlung anbietet.
Während diese faschistischen Verirrungen beklemmend wirklichkeitsnah sind, werden in der absurden Titelgeschichte Möglichkeiten, durch „seelische Bazillen“ oder „durch intensive Gedankenstrahlen zu töten“, erörtert. Mit Blick auf das Entstehungsdatum der 1937 nur auf Dänisch veröffentlichten Erzählung ist die Handlung dann aber weniger phantastisch als vermutet. Denn der mit Gedankenstrahlen bedrohte Direktor stirbt tatsächlich aus Angst vor bösartigen Stigmatisierungen, wie sie in der Nazizeit überall aufkamen.
Maria Lazar: „Gedankenstrahlen“. Erzählungen und Short Stories. Hrsg. und mit einem Nachwort von Albert C. Eibl. Verlag Das vergessene Buch, Wien 2025. 416 S., geb., 26,– €.

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