Durch die Bilderwelt von Karl Schmidt-Rottluff läuft man wie durch einen Sommerurlaub. Da sind Bauernhäuser, Meeresbuchten, Sanddünen, Reusenstangen, Segel- und Fischerboote, Frauen mit Handtüchern, Frauen mit Hüten, Frauen mit Kindern am Strand. Es gibt Schwertlilien, Kakteen, Krüge, Gartengeräte, Obstbäume, Birken und Föhren, Herbstnebel und Mondlicht über den Wellen.
Was es nicht gibt, ist Geschichte. Der Maler wurde 1884 geboren und starb 1976, er hat den Ersten Weltkrieg, die Revolution, die Inflation, die Weltwirtschaftskrise, die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs und die Mühen des Wiederaufbaus durchlebt und durchlitten, aber die Spuren all dieser Ereignisse sucht man bei ihm vergebens. Keins seiner Gemälde zeigt rote Fahnen oder Hakenkreuze, Großstadtstraßen, Panzer oder auch nur ein Auto; kein Stahlhelm, kein Schützengraben, kein Kaufhaus, keine Bank.
Er hat die Krisen des Jahrhunderts nicht gemalt
Bei Schmidt-Rottluff findet das Leben im Kleinen statt, auf einem Dorfweg zwischen gelben Häusern mit roten Giebeln, in einem Park vor einer Villa oder in der Privatheit des Ateliers. Hier porträtiert er sich 1950 neben einer leeren Staffelei vor einem Fenster mit Blick auf die Hügel des Taunus bei Hofheim, sein ikonischer Ziegenbart leuchtet in hellem Blau, und aus den Augen, die als gelbgrüne Halbschalen über den tiefen Tränensäcken liegen, spricht die Vorsicht eines scheuen Tieres. Schmidt-Rottluff hat in einem Jahrhundert der Krisen und Katastrophen gelebt, aber er hat es nicht gemalt. In seiner Kunst herrscht immer Dorfstille oder Zimmerdunkel, die Bootsrümpfe schaukeln im spiegelglatten Wasser, der Mond glänzt über den Dünen, und alles, was dem Menschen wehtut, bleibt vor der Tür.
Selbstbildnis mit blauem Bart: „Im Atelier“, 1950Brücke-Museum/VG Bild-Kunst, Bonn 2025Normalerweise ist es unmöglich, das Leben eines Künstlers allein aus seinem Werk heraus zu erzählen. Bei Schmidt-Rottluff geht es nicht anders, denn in der Geschichtsferne seines Werks spiegelt sich das Muster seiner Biographie. Im Ersten Weltkrieg als Bausoldat und später in der Pressestelle des Heeresstabs Ober-Ost eingesetzt, engagiert er sich in der Weimarer Republik weder politisch noch sozial. Auf die Aufnahme seiner Bilder in die Wanderausstellung „Entartete Kunst“ und den Ausschluss aus der Reichskunstkammer im Nationalsozialismus reagiert er mit undatierten Aquarellen, nach der Zerstörung seiner Berliner Wohnung und seines Ateliers zieht er sich in sein Elternhaus im Chemnitzer Vorort Rottluff zurück.
Nach Kriegsende bekommt er eine Professur an der Berliner Kunsthochschule, wo er gegen die Abstraktion kämpft und zu politischen Fragen schweigt. In der DDR fällt sein Ruhm der Formalismusdebatte zum Opfer, in Westdeutschland feiert der Expressionismus ein Comeback. Schmidt-Rottluff und Erich Heckel sind seine letzten Zeitzeugen. 1964 sorgt der Maler aus Chemnitz für die Gründung des Brücke-Museums in Dahlem, in der Folgezeit legen er und Heckel durch Stiftungen das Fundament für die Berliner Sammlung.
Kampf gegen die Abstraktion: „Mond über der Küste“, 1956Brücke-Museum/VG Bild-Kunst, Bonn 2025Wenn das Dahlemer Museum jetzt den fünfzigsten Todestag seines Gründers im kommenden Jahr vorab mit einer Retrospektive begeht, erfüllt es damit nicht nur eine überfällige Pflicht – eine vergleichbare Werkschau hat es in Berlin seit Jahrzehnten nicht gegeben –, sondern konturiert auch unser Bild von den Brücke-Malern neu. Man muss die Gemälde Ernst Ludwig Kirchners nicht vor Augen haben, um zu begreifen, dass er und Schmidt-Rottluff die eigentlichen Antipoden der Gruppe waren. Wenn der Jüngere die gezackte Linienführung des Älteren – Kirchner war Jahrgang 1880 – zitiert, wie in der „Sinnenden Frau“ von 1912, dann nur, um sie gleich wieder ins Idyllische abzubiegen. Und wo Kirchner seine Meereswellen mit unruhigen Nackten bevölkerte, brachte Schmidt-Rottluff Jahr für Jahr berückende Seestücke aus der Ferienfrische in Friesland, Kurland oder Hinterpommern zurück, eine pointillistische Steilküste mit Ausguckterrasse hier („Am Meer“, 1906), ein in Rot ertrinkendes Deichpanorama dort („Deichdurchbruch“, 1910).
Vor allem aber erkennt man in der Ausstellung, wie lange Schmidt-Rottluff nach einem eigenständigen künstlerischen Ausdruck gesucht hat. In „Gärtnerei“ (1906) imitiert er van Gogh, in „Mädchen bei der Toilette“ (1912) seinen „Brücke“-Mitstreiter Pechstein, in „Weinstube“ (1913) den verehrten Edvard Munch, in „Nach dem Bade“ (1926) Max Beckmann und in den Seelandschaften immer wieder sein großes Vorbild Nolde.
Porträt einer Wohltäterin: „Bildnis R. S.“ (Rosa Schapire), von 1915Brücke-Museum/VG Bild-Kunst, Bonn 2025Erst nach dem Ausglühen der expressionistischen Sonne ab Mitte der Zwanzigerjahre wird seine Malerei unverwechselbar. Jetzt entstehen seine gelungensten Bilder: die „Brücke mit Eisbrechern“ von 1934, in der hartnäckige Kaffeesatzleser ein Sinnbild des Widerstands erkennen wollen, die gelb glühende „Landschaft hinter den Dünen“ (1937) oder die sinnlich-zarte „Frau bei der Toilette“ (1929). Sein bestes Porträt, das „Bildnis R. S.“, hat er schon 1915 gemalt. Es zeigt seine Wohltäterin, die deutsch-jüdische Sammlerin Rosa Schapire, der Schmidt-Rottluff seinen Erfolg verdankt. Sie starb 1954 verarmt in London, mitten in der Tate Gallery, der sie viele Werke des Malers aus ihrem Besitz überlassen hatte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird der Expressionismus von Schmidt-Rottluff zum Professoralstil. Seine Formen glätten, runden und vergröbern sich, die „Wanderdüne am Haff“ (1947) ist ein Kalihügel in einer Pop-Art-Landschaft, der „Heiße Taunuspark“ (1950), den er vor der Villa seiner Mäzenin Hanna Bekker vom Rath malt, eine Orgie aus Schleifen und Bögen. Wenn Schmidt-Rottluff jetzt „Gerümpel“ oder „Kohlrabi“ (1947) porträtiert, sieht man nicht einfach Gartenutensilien oder einen Bund Gemüse, sondern ein Statement.
Trotzdem fällt es immer noch schwer, in dem „Blockadestillleben“ (1948) etwa die politische Lage zu erkennen. Um ein Öllämpchen sind eine Zuckerdose, ein aufgeschlagenes Buch, eine leere und eine volle Weinflasche arrangiert. „Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug“, hatte Günter Eich drei Jahre zuvor in „Inventur“ geschrieben. Bei Schmidt-Rottluff aber steht schon wieder eine Flasche Wein auf dem Tisch. Mit ihm wird die expressionistische Provokation zum Genussmittel, und vielleicht ist das der Grund, warum ihm das Publikum der Museen bis heute die Treue hält.
„Immer wieder muss die Welt neu gesehen werden“: Malerei von Karl Schmidt-Rottluff. Brücke-Museum, bis 15. Februar. Kein Katalog.

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