Künstler Arnulf Rainer tot: Der Über-Maler

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Eine seiner subtilsten Übermalungen galt dem bewunderten Künstlerkollegen Menzel. Auf das Foto einer Marmorbüste des Berliner Malers setzte der Österreicher Arnulf Rainer nur über die Augen sein berühmt-berüchtigtes Gespinst aus kreisenden Linien. Im Zentrum des kalligraphischen Taifuns verdichten sich die linearen Sturmwinde zu kleinen Tintenseen, rostrotbraune Linienwirbel sorgen für einen spannungsreichen Kontrast zu der kalkweißen Menzel-Büste, die einer Totenmaske ähnelt. Und obwohl die vielfach überzeichneten Augen des Meisters gar nicht mehr zu sehen sein dürften, achtet der Betrachter durch die betonende Auslöschung umso stärker auf das zentrale Organ des preußischen Kleinmeisters, aus dem geradezu radiale Funken zu stieben scheinen und dem „alles Zeichnen“ ebenso wichtig war wie „Alles zeichnen“ auch. Worin er in dem begnadeten Zeichner Rainer einen Seelenverwandten hatte.

Es könnte aufschlussreich sein, Arnulf Rainers 1929 in Baden bei Wien beginnendes Leben einmal als Geschichte der Verweigerung zu erzählen. Auf die politisierte Kindheit in der Napola 1940 bis 1944 folgten lebenslange widerborstige Ausgleichsbewegungen: 1949 ging er an der Akademie für angewandte Kunst in Wien, die er aufgrund künstlerischer Differenzen mit dem Lehrassistenten schon nach einem Tag wieder verließ. Auch der renommierten Wiener Akademie für bildende Künste kehrte er bereits drei Tage nach bestandener Aufnahmeprüfung den Rücken zu, der Überlieferung nach weil seine Arbeiten als „entartet“ diffamiert worden waren. Seit den Fünfzigern schon fand er die als Ikonoklasmus empfundene Übermalung von Originalen der Freunde Sam Francis, Victor Vasarely oder Emilio Vedova, später dann auch von Drucken von Klassikern wie Leonardo oder Velázquez und anderer Ikonen als adäquaten Ausdruck für sich. Wegen der öffentlichen Übermalung eines prämierten Bildes in Wolfsburg wurde er 1961 gar angeklagt.

„Kunst über Kunst“ war wörtlich zu nehmen

Bei allen Unbotmäßigkeiten dockte er jedoch auch bewusst an Kunstströmungen an. Das Vexierspiel aus Enthüllen und Verhüllen seiner „Kunst über Kunst“ verbindet ihn sichtlich mit dem Zeitgenossen Christo. Seine Fingermalereien ähnelten den parallelen Kinderkritzeleien der Art brut, auch Surreales findet sich. Ebenfalls seit den Fünfzigern arbeitet er sich wie viele andere Künstler an den großen abstrakten Formen der Kunst wie dem Kreuz ab, wenn er etwa sein „Schwarzes Balkenkreuz“ von 1954 monumental in Tusche auf Papier wuchtet. Auch liebliche Landschaften wurden von ihm übermalt, wobei es sich hier eher um Parallelbilder handelte – blaue Wellen und Schollen beispielsweise schweben da oft luftig vor und über der Natur in der Bildmatrix. Übermalungen wie „Schwarze Rinnen“ aus dem Jahr 1974 in Öl und Kohle auf einer Fotografie nutzen sehr bewusst das anders gelagerte Medium der Lichtbildnerei, mit der er sich intensiv befasste.

 Bei seinen Landschaftsübermalungen wie hier „o.T.“ von 1989 setzte Arnulf Rainer die Farbe vor und über die Formationen und ließ sie laufenParallel zur Natur: Bei seinen Landschaftsübermalungen wie hier „o.T.“ von 1989 setzte Arnulf Rainer die Farbe vor und über die Formationen und ließ sie laufenGalerie Ropac Salzburg

Dabei gleicht keine Übermalung der anderen. Ist die eine aggressiver und dichter, lässt die nächste dem eingesponnenen Ausgangsmotiv mehr Luft; bisweilen sind regelrecht Stile der Überformung zu erkennen: Kubistischen Zergliederungen eines Selbstbildnisses folgen eher pollockeske mit mehr Luft zwischen den Linien.

Die Technik des intrinsischen Aneignens eines Motivs durch Ausradierung dessen äußerer Form stammt übrigens von Leonardo, und der kunsthistorisch äußerst beschlagene Rainer wusste das sehr genau: Der skrupulöse Renaissancemeister überzog etwa eine gezeichnete Madonna mit Kind dutzende Male mit immer dichter werdenden schwarzen Liniengeflechten, bis das ursprüngliche Motiv nahezu nicht mehr zu erkennen war. Eine neue Form war so entstanden, abstrakt, in einen Kokon aus Linien gehüllt, doch die alte figürliche Anlage steckte noch darin – für den Künstler wie für den Betrachter.

 Ein Beispiel für Arnulf Rainers halb figürliche, halb abstrakte „Face Farces“ von 1972 mit Kreideübermalung auf PhotopapierMann ohne Unterleib: Ein Beispiel für Arnulf Rainers halb figürliche, halb abstrakte „Face Farces“ von 1972 mit Kreideübermalung auf PhotopapierGalerie Ropac Salzburg

Aus dem Formentzieher und -neuschöpfer wurde spätestens seit seinen Documenta-Teilnahmen, vielen internationalen Ausstellungen und der Eröffnung eines Rainer-Museums 2009 in seinem Geburtsort Baden selbst ein Klassiker. Nun ist der große Über-Maler Arnulf Rainer im Alter von 96 Jahren gestorben.

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