Kolumne „Zurück zur Natur“: Die Freiheit der Stadtkatze in der Nacht

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In Ludwig Ganghofers Roman „Schloss Hubertus“ hält Graf Egge Steinadler in Volieren. Eines Morgens entdeckt seine Tochter, dass sich einer der Adler im Zaun der Voliere verfangen und erdrosselt hat. Daraufhin beginnt der Vater mit der Jagd nach neuen Exemplaren. Seine Jäger hält er dazu an, das Steinadler-Paar zu beobachten, um zu wissen, wo in den Bergen es horstet. Fliegt nur noch der männliche Adler, brütet das Weibchen, lehrt er sie, fliegt abwechselnd der eine und die andere, sind die kleinen Adler geschlüpft. Dann sollen sie aus dem Nest gestohlen werden. Doch das hängt an gefährlicher Stelle in der Steilwand. Sich von oben zum Nest abzuseilen, um hineingreifen zu können, ist nicht möglich.

Um von unten zum Nest hinaufzuklettern, lässt der Patriarch mehrere Leitern anfertigen. Übereinandergestellt, sollen sie die siebzig Meter bis zum Nest überbrücken. Ganghofers Welten mögen untergegangen sein, aber der Wunsch seines Protagonisten, ein geradezu mythisches Tier dem menschlichen Willen zu unterwerfen und seinem Freiheitselement, der Luft, zu entziehen, ist nicht ausgestorben. Die Eigentümer von Kanarienvögeln und Papageien halten diese in Käfigen; Aquarien und Terrarien sind voller Tiere, deren Leben hinter Glas stattfindet. Auf den Gehwegen schieben Hundebesitzer ihre Schoßtiere in Baby-Buggys durch den Stadtraum. Katzen sitzen auf Kratzbäumen hinter der Fensterscheibe und fixieren die Vorbeigehenden, als müsste sich einer schließlich finden, der sie rauslässt. Menschen denken von Tieren in folgenden Begriffen: als Besitz, Nahrung und Sport.

Forscher verschiedener Disziplinen, Biologen, Soziologen, Philosophen, denen das daraus resultierende Verhalten gegen den wissenschaftlichen Strich ging, begannen das Verhältnis von Mensch und Tier zu untersuchen; seit den Sechzigerjahren gibt es die sogenannten „Human Animal Studies“. Juristisch wird das Tier zwar als Sache aufgefasst, deren Lebendigkeit, Wesenhaftigkeit und Unterschiedlichkeit von Auto oder Uhr macht es allerdings erforderlich, sie durch ein Tierschutzgesetz vor missbräuchlichem menschlichen Verhalten zu schützen und dieses zu sanktionieren.

Ma sieht es, wenn ein Schwein sich pudelwohl fühlt.Ma sieht es, wenn ein Schwein sich pudelwohl fühlt.Picture Alliance

Die zentrale Frage der Human Animal Studies ist die nach der menschlichen Bewusstwerdung: Was ist artgerecht, wie wird Tierwohl definiert? Wie kann der Mensch dazu gebracht werden, das Tier zu sehen und nicht nur das Schnitzel? Das Experiment, ein unter Klarsichtfolie liegendes totes kleines Ferkel neben die genauso verpackten Schnitzel in die Kühltheke zu legen, löste Empörung aus. Wie weit soll unser Mitgefühl gehen, welche Verhaltensänderungen soll es hervorbringen? Wollen wir nur keine Tiere mehr töten, um sie zu essen? Oder wollen wir sie auch nicht mehr melken, ihnen keine Eier wegnehmen und sie nicht scheren?

Tiere lassen sich im Hinblick auf ihren Einsatz bei Sportarten auf zwei verschiedene Weisen einteilen: Sportpferde sind Partner, Füchse Beute der inzwischen abgeschafften Jagd zu Pferde. Kaninchen sind Beute, Frettchen Partner der Falken, die das Kaninchen schlagen, nachdem das Frettchen es aus dem Bau gejagt hat. Eine Aufgabe der Kunst ist es, uns ins Verhältnis zur Natur zu setzen und diese Verbindung zu reflektieren. Gleichzeitig stellt die Natur eine nicht versiegende Quelle von Motiven der Kunst dar.

Tiere und Menschen und ihre Körper werden vielleicht besonders anschaulich in Dichtung und Malerei. Wenn man Tiere beobachtet, ist so vieles an ihnen interessant – wie sie zusammenstehen und auseinanderstieben, wie sie im Blickfeld auftauchen und verschwinden. Wie sie sich strecken, niesen oder gähnen, wie sie trinken oder im Traum bellen. Wie sie hochspringen und schnell rennen. Wie sie lauern, Wasser aus Fell und Federn herausschütteln. Wer solche Beobachtungen gemacht hat, kann den Unterschied erkennen, den es bedeutet, ein Tier nur zum Mästen und Schlachten zu halten oder ein Tier artgerecht leben zu lassen und es dann zu essen. Einem solchen Beobachter ist klar, dass man sie nicht zu häufig essen kann.

Das Wohl, das zu erleben Tieren ermöglicht werden muss, entsteht teilweise aus Handlungen, durch die auch Menschen Wohlgefühle erfahren. Im Wasser sein, im Schnee sein, gut essen, tief schlafen, körperliche Nähe fühlen, schnell rennen, sich strecken, Sonne spüren, den Wind hören, in einen Rhythmus einschwingen. Das Gegenüber lesen, dem anderen antworten: Kommunikation. Beim Menschen findet Kommunikation mit dem Körper statt, im Spiel – etwa beim Fangenspielen –, in vielen Sportarten, im Kampf Person gegen Person, beim Sex, in der Musik, beim Tanz.

Der Tanz als eine der voraussetzungsreichsten Kunstausübungen setzt uns auf besonders interessante Weise in Verbindung mit unserer eigenen Natur: Dieser Körper ist erdenschwer und möchte am liebsten fliegen können. Tiere wünschen sich nicht, etwas zu können, das ihnen unmöglich ist. Menschen tun das und ahmen jene Spezies nach, die fliegen können oder am Meeresgrund existieren.

Der Tanz setzt uns in Bezug zu unseren Körpern und zu denen aller, die sich bewegen, der Tanz schafft das interessanterweise zugleich artistischer und animalischer als andere Künste. Schönheit kommt ins Spiel: In den instinktiven Bewegungen vieler Tiere liegt eine Schönheit, darin, wie sie ihren Körper besitzen, liegt etwas, das der Tanz zurückspiegelt, als könnte es auch menschlich sein. „Die Formen klassischen Tanzens“, bemerkte der amerikanische Dichter und Tanzkritiker Edwin Denby (1903 bis 1983), „können eingedenk ihrer Formalität nicht weniger instinktiv genannt werden.“

In der Art und Weise, in der eine Stadtkatze in einer wie ausgestorben daliegenden Straße bei Nacht auf einen Fremden zugehen und ihn dazu auffordern könne, ihr über den Rücken zu streichen, um gleich darauf im Dunkel zu verschwinden und dann von der anderen Seite zurückzukehren – „all das hat eine Form, die einem auf der Bühne begegnet, während die Ballerina ein Adagio von Petipa tanzt“, so Denby. Da ist sie, die Freiheit der Katze davon, Besitz zu sein.

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