Rie Qudan, die schon mit ihren Romanen „Bad Music“ und „Schoolgirl“ Themen wie Entfremdung, Empathiearmut, Aneinandervorbeireden und die Youtubeisierung der Lebenswelt diskutiert hat, ist eine versierte Vertreterin neuerer posthumaner japanischer Literatur. Für ihren jüngsten, in Japan 2024 erschienenen Roman „Tokyo Sympathy Tower“, eine Art Neuschreibung des Turmbaus zu Babel als aus wohlmeinender Wokeness und KI-generierter klinischer Korrektheit entstandene Sprachverwirrung, erhielt die Schriftstellerin den Akutagawa-Preis.
Das Buch spielt in einem futuristischen Tokio, in der schönen neuen Welt einer generalgesäuberten Sprache und scheinhumanen homogenisierten Gesellschaft. Zaha Hadids wegen Kostenexplosion verworfener kühner Entwurf des neuen Tokioter Nationalstadions für die Olympischen Spiele von 2020 ist im fiktiven Raum des Romans gebaut worden und dient als Gegenpol zu einem anderen Bauprojekt: einem inklusiven Mustergefängnis, dem „Tokyo Sympathy Tower“.
Eine japanische Gesellschaftssatire
Der Roman ist eine poetisch-philosophische Meditation über die Zusammenhänge von Glück und Milieu, Möglichkeiten und Grenzen diskriminierungsfreier Kommunikation, Chancen und Gefahren von KI und Ideologien von Gleichheit im Kontrast zu einer Apologetik des Verbrechens. Und er ist auch eine Satire auf die inszenierte Harmonie in der japanischen Gesellschaft. Seine Heldin ist die aus einem Wettbewerb um den „Tokyo Sympathy Tower“ siegreich hervorgegangene Stararchitektin Sara Makina. Weder „Sprachwissenschaftlerin noch Werbetexterin noch Nationalistin“, ist sie nur für die funktionelle Architektur zuständig. Doch Sara, ein früheres Vergewaltigungsopfer, was ihre Umwelt aber als Definitionssache heruntergespielt hat, weil der Vergewaltiger ihr Freund und sie außerdem in ihn verliebt gewesen sei, fühlt Unbehagen wegen des euphemistischen Namens, den der Turm bekommen hat.
Rie Qudan: „Tokyo Sympathy Tower“. Roman.Hoffmann und CampeDen soziologischen Überbau für das Luxusknastprojekt bildet der Bestseller „Homo miserabilis – Menschen, die unser Mitgefühl verdienen“ des imaginären Glücksforschers Masaki Seto. Seine Titelformulierung ersetzt das Wort „Kriminelle“, Gefängniswärter heißen nun „Supporter“ – Qudans Neologismen evozieren Orwells „Newspeak“. Und auch Yukio Mishimas Architekturroman „Der goldene Pavillon“ über das Ideal eines vollendeten Bauwerks, Victor Hugos „Les Misérables“ und Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ sind wichtig für das Buch.
Sugarmommy wider Willen
Das Gefängnisprojekt und die in manchen Belangen geschlossene Gesellschaft Japans werden im Perspektivwechsel dreier Personen inspiziert: Da sind Sara (eine „Sugarmommy“ wider Willen) und ihr schöner junger Unterschichtenliebhaber und späterer Biograph Takuto, der in einer Boutique jobbt, sowie Max Klein, ein drittklassiger amerikanischer Journalist, der mit ebenso ignorantem wie aufschlussreichem Außenblick auf Japan eine Exklusivreportage über das Gefängnis schreibt. Es kommt zu Demonstrationen und Hassreden gegen den geplanten Bau des als Big Brother über Tokio wachenden Turms.
Im Verlauf dieser Dystopie gewinnt das toxische Gebäude ein Eigenleben und an Sogkraft – und ein „kleiner Zensor“ in Saras Kopf die Oberhand. So sind die Helden gefangen im Kerker der Worte und hin und her gerissen im Krieg der Begriffe. Takuto, der als ungewolltes Kind keine Zuwendung erfuhr, sieht sich zuletzt auch als Mitglied der Spezies Homo miserabilis und Qualifikant für den Turm, zumindest als Supporter/Wärter.
Die Bibliothek im obersten Stockwerk ist eine Hommage an Borges’ „Bibliothek von Babel“. Die Gefängnisinsassen „vergessen, was außen und was innen, was Vergangenheit und was Zukunft ist, und auch, welche Sprache“ sie in der Vergangenheit verwendeten. Buddhistische und christliche Topoi umfangen zwischen Tokio und Babel, Mitgefühl und Hochmut den Roman. Sara erkennt, dass sie sich „selbst mit Worten betrogen“ hat, und verweigert alle Aufträge. Im surrealen Finale verwandelt sie sich in eine zum Sympathy Tower aufschauende Statue, während Passanten mit dem Finger auf die unter Sprachverwirrung, leeren Signifikanten und dem digitalen „Zeitalter des großen Selbstgesprächs“ Leidende zeigen und „Ecce homo – seht, die Frau“ ausrufen. Der Glücksforscher aber, dessen letzte Worte bei einer Rede lauten: „Um dieses Glück zu schützen und für immer zu bewahren, müsst ihr jedes Wort vergessen, das Unglück und negative Gefühle hervorruft“, wird von einem glücksfernen Homo miserabilis getötet. So entpuppen sich erzwungenes Mitleid und Glück, politische Korrektheit und präzise Kommunikation („Mit Worten über Sprache nachzudenken, ist falsch“) in Qudans ebenso luzidem wie filigranem Roman als Ding der Unmöglichkeit.
Rie Qudan: „Tokyo Sympathy Tower“. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2025. 160 S., geb., 23,–€.

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