„Die Schneekönigin“ im Fernsehen: Engel, Teufel, Langeweile

vor 2 Tage 4

Ein Dämon stellt einen Zerrspiegel her, einen, der alle Werte ins Gegenteil verkehrt: Was gut und schön ist, erscheint darin böse und hässlich, ehrlich Empfundenes wirkt wie eine Satire. Dann wagt der Dämon ein monströses Experiment: Er befördert den Spiegel himmelwärts und versucht darin ein verzerrtes Abbild Gottes einzufangen. Das hält der Spiegel nicht aus und zerbricht in Millionen Scherben. Die aber kontaminieren die ganze Welt und dringen in die Augen und Herzen der Menschen. Wer sie in sich trägt, der sieht seine Umgebung künftig mit anderen Augen: Alles Fehlerhafte ist grotesk vergrößert, all das, was tröstet und wohltut, verschwindet fast aus der Wahrnehmung.

So beginnt Hans Christian Andersens großes Märchen von der Schneekönigin, und dieser Prolog ist wie geschaffen, um auf die Lebenszeit des Autors angewandt zu werden, also auf die Epoche im neunzehnten Jahrhundert, die in Europa die größten industriellen Umwälzungen und sozialen Entfremdungen mit sich brachte – die nur scheinbar so friedliche Biedermeierzeit. Aber man könnte Andersens Vorstellung, dass es eine äußere Instanz gibt, die uns die Dinge aggressiv ins Satirische verzerrt vor Augen bringt, mit einigem Recht auf unsere Gegenwart mit ihren Medien übertragen.

Das Märchen erzählt eine Pubertätsgeschichte

Immer aktuell ist auch, wie Andersen sein Märchen nach dem Prolog weitererzählt, wenn er vom Allgemeinen zum individuellen Schicksal der beiden Nachbarskinder Gerda und Kay kommt. Denn deren friedliches Miteinander wird eines Tages durch das seltsame Verhalten des Jungen gestört. Noch vor Kurzem sang er Hand in Hand mit Gerda niedliche Lieder über blühende Rosen und küsste die Rosenblätter, nun sieht er nur noch Wurmstiche und welkende Stellen an den Blüten, äfft die Erwachsenen nach und hat für seine Freundin nur unfreundliche Worte. Schließlich bindet er seinen Schlitten an die Kutsche einer fremden, durch die Stadt fahrenden Dame und wird mit ihr davongezogen.

Man kann sich das unschwer als Pubertätsgeschichte deuten. Es geht um ein Erwachsenwerden, das schmerzhaft ist für andere und für sich selbst, um Verführung und Verführbarkeit, darum, dass es einem irgendwann zu eng werden kann in der rosenstockumkränzten Idylle, und dass man selbst spürt, dass es Zeit ist, von dort aufzubrechen. Zum Leidwesen derer, die zurückbleiben.

Es erstaunt also nicht, dass Andersens vielschichtiges Märchen zu den meist­adaptierten Stoffen der Weltliteratur gehört, dass jedes Jahr irgendwo eine Bühnenfassung gespielt wird und dass ständig Filme entstehen, die unmittelbar oder über einzelne Motive auf die „Schneekönigin“ zurückgehen, darunter so erfolgreiche wie „Frozen“.

Gerda wird bald in den Norden aufbrechenGerda wird bald in den Norden aufbrechenZDF und © 2025 Pictoryland

Im Kika hat nun der 3D-Animationsfilm „Im Bann der Schneekönigin“ Premiere, eine norwegische Produktion, bei der Bente Lohne Regie führte und das Drehbuch verantwortet, das mit dem Märchen radikal aufräumt. Das Vorspiel mit dem Zerrspiegel schenkt er sich, die Splitter auch, und Kays pubertären Protest erspart man dem avisierten Publikum lieber. Dafür findet man sich in einem vormodernen Spielzeugland-Kopenhagen wieder, bevölkert von rundgesichtigen Menschen voller Güte, und dass sich Gerda vor dem Antreten ihrer großen Reise auf der Suche nach dem verschwundenen Kay eine Münze aus dem Familienbesitz mitnimmt, ist schon das Äußerste an Untugend.

Für Fragen der Moral etabliert der Film zwei weitere Gestalten, einen tölpelhaften Dämon im Dienst der Schneekönigin, der am Ende in Fledermausgestalt davonfliegt, und einen kleinen Engel, der sich mit der erfolgreich absolvierten Mission an der Seite Gerdas einen Heiligenschein verdient.

Aus der Naturgewalt wird ein blasses Horrorfilm-Zitat

Das kann man alles machen, klar. Man sollte nur auch wissen, warum. Und was dabei auf der Strecke bleibt. Zum Beispiel ein guter Teil von Gerdas Dickköpfigkeit und ihrem Talent, sich in der Welt zurechtzufinden – wozu braucht sie da einen Engel? Und aus welchen Erwägungen heraus opfert der Film eine der herrlichsten Gestalten der Vorlage, das grimmig tuende und dabei herzensgute Samimädchen, das Gerda auf der Reise entscheidend hilft?

Ersetzt wird sie durch einen blassen Samijungen, der mit der Schneekönigin eine eigene Rechnung offen hat. Und das ist das größte Ärgernis dieser Fassung: Im Märchen bleibt die Schneekönigin moralisch völlig ambivalent, sie erscheint als Naturgewalt, entführt den Jungen und versetzt ihn in völlige Einsamkeit, ohne dass im geringsten deutlich würde, warum. Hier giert sie nach dem jungen Blut ihres Opfers, das sie sich in einem magischen Ritual zuführt, um dadurch – wie die Mumien zu Recht vergessener Horrorfilme – dem körperlichen Verfall zu trotzen.

Immerhin kann man dem Animationsfilm ablesen, wie man einem Märchen den Zahn zieht, indem man ihm jedes Rätsel nimmt. Das Resultat ist himmelschreiende Langeweile. Einen Zerrspiegel, bitte.

Im Bann der Schneekönigin, am Freitag um 19.30 Uhr im Kika und in der Mediathek

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