Bündnis Berliner Buchläden: „Viele wissen nicht mehr, wozu eine Buchhandlung da ist“

vor 2 Tage 4

Werfen wir mitten im Weihnachts­geschäft einen kurzen Blick auf unsere Art zu leben im frühen 21. Jahrhundert – „The Way We Live Now“, wie es im unsterblichen Romantitel von Anthony Trollope heißt. Der alte Viktorianer veröffentlichte sein Buch 1875. Genau 150 Jahre später sind wir auf dem Weg zur volldigitalisierten Gesellschaft. Geschätzt 80 Prozent aller Reisenden in Bus und Bahn beugen ihren bedenklich krummen Nacken während der Fahrt über ein Smartphone. Wir sind auf dem besten Weg, unsere Innenstädte zu veröden, den Einzelhandel zu killen und unsere Alten von der Kommunikation auszuschließen. Wir betrachten als wichtigste Nachricht, was im Internet „viral geht“, also oft von den frechsten Schreihälsen durchs Netz geschossen wird. „Follower“ haben Bekannte und Freunde ersetzt.

Zusammenhängende Gespräche, jeder weiß es, werden schwieriger, längere Buchlektüre ist für die meisten kaum noch vorstellbar. Soziologen sind dabei, die Digitalisierung nicht nur als größte Transformation der Menschengesellschaft seit der indus­triellen Revolution zu studieren. Sie berechnen auch schon die Schäden, und eines lässt sich ohne Risiko sagen: Sie sind irreversibel. „Truth Social“, die Plattform des mächtigsten Politikers der Erde, wäre ein guter Ausgangspunkt, um sich ein Bild von digital befeuerter charakterlicher Ver­rohung zu machen.

Raum für Debatten

Vor diesem schwindelerregend großen Panorama ist die Initiative von acht unabhängigen Berliner Buchhandlungen zu sehen, sich zu einem Verbund zusammenzuschließen, der IG Indie-Buchläden (Interessengemeinschaft unabhängiger Buchläden Berlin). Die Läden der Stadtteile Mitte, Kreuzberg, Neukölln und Friedrichshain wollen ihre Bedeutung für die Gesellschaft stärker herausstellen. „Gesellschaft“ bedeutet hier das Gegenteil von Netzgemeinschaft, nämlich das Stadtviertel, den Kiez, die Nachbarn links und rechts: konkrete Nähe. Es begann mit einem Stammtisch, an dem ein paar Buchhändlerinnen fanden, sie müssten etwas gegen die schlechte Stimmung, die regelmäßigen Katastrophenbotschaften in der Buchbranche und die Übermacht der Internet­riesen tun. Andere schlossen sich an. Weitere könnten folgen.

„Wir erleben täglich, wie der Raum für Unabhängigkeit in Berlin schrumpft – in der Literatur, in den Kiezen und im Handel“, schreibt Stefanie Hirsbrunner, Ko-Inhaberin von InterKontinental, in der Pressemitteilung. Nadine Vollmer, Ko-Inhaberin von Die Buchkönigin, definiert Buchhandlungen als „lokale Kulturorte“, die mehr leisteten als reine Verkaufsarbeit: „Wir schaffen Räume für persönliche Gespräche, generationsübergreifende Begegnung, Debatte und Inspiration.“ Ihre Geschäftspartnerin Caroline Fröse erzählt am Telefon, ihre Botschaft solle weder weinerlich noch edukativ rüberkommen, doch die Leistung müsse erkannt werden: Die Buchläden dieses Verbunds bieten viele Veranstaltungen unentgeltlich an. Sie kooperieren mit Kultureinrichtungen, kümmern sich um Kinder und Jugendliche und fördern die Arbeit kleiner Berliner Verlage, die hier ihre Programme vorstellen können. Spenden sind immer willkommen; an große Profite ist nicht zu denken.

Der Buchladen ist ein Organismus

Vor dreizehn Jahren kauften noch knapp 37 Prozent der deutschen Bevölkerung gelegentlich ein Buch. Im letzten Jahr waren es keine 25 Prozent mehr. Diese Kurve neigt sich sanft, aber unaufhaltsam nach unten – bei insgesamt steigenden Umsätzen, von denen der klassische Sortimentsbuchhandel aber nur noch gut vierzig Prozent abbekommt. Den Abstieg von Bildung und Lesekultur braucht man nicht weiter zu kommentieren, das „Buchhandlungssterben“ gehört zu den üblichen Wirtschaftsnachrichten.

Gesine Tosin, Inhaberin des about bookshops, erzählt im Gespräch mit der F.A.Z., viele Menschen wüssten gar nicht mehr, wie eine Buchhandlung überhaupt funktioniert. Die promovierte Kunsthistorikerin würde im Verbund mit ihren Kolleginnen gern zeigen, was dieser Kulturort bedeutet, wie wichtig Geschichten für unser Leben sind und dass wir sie am besten im Austausch mit anderen verankern. Die Buchhändlerin verhehlt nicht, dass sie und ihre Kolleginnen eines gemeinsam haben: Sie sind bereit, viel Kraft und Zeit zu investieren. „Der Buchladen ist ein Organismus“, sagt Gesine Tosin.

Wenn er bedroht ist, könnte man ergänzen, sammelt er seine Kräfte und leistet Gegenwehr. Wie jetzt in Berlin.

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