Auf dem Bild mit der Anbetung des Gotteslammes, das die Brüder Eyck ins Zentrum ihres Genter Altars gesetzt haben, drängen die Scharen der Heiligen von allen Seiten zur Festwiese – eiligen und doch würdig-feierlichen Schrittes, in den vorderen Reihen vor dem Erlösungswunder stockend und in die Knie gehend. So wie der RIAS Kammerchor und die Berliner Philharmoniker unter Raphaël Pichon ihre Interpretation von Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe mit dem riesigen Kyrie eröffneten, konnten einem genau solche Bilder in den Sinn kommen: Menschenmassen, aufgewühlt bis zur inneren Qual, andrängend, wieder verhaltend und trotz aller verzweifelten Anspannung rituell gesammelt und nicht von ihrer großen Hoffnung lassend.
Getragen wurde das vor allem von den Choristen, die ungedeckt und in den hohen Registern, quasi dissonanzenselig, bis an die Grenzen des schmerzhaft erregenden Überhellen sangen. Es war ein bewegender, ohrenöffnender Auftakt dieser ersten Begegnung zwischen dem reichlich vierzigjährigen, international immer mehr Fahrt aufnehmenden französischen Ensembleleiter und den Philharmonikern, die sich damit nach ihrem (ebenfalls ersten) Treffen mit Jordi Savall innerhalb kurzer Zeit ein zweites Mal mit einem Dirigenten zusammentaten, dessen Mutterboden die historische Aufführungspraxis ist.
Seraphisch flatternde und schwebende Violine
Ganz gingen die Verheißungen dieser ersten zehn Minuten dann im weiteren Verlauf des langen Abends (wieder einmal stellte sich die Frage, ob bei Bachs großer Messe eine Pause – außer natürlich für den Catering-Umsatz – wirklich sinnstiftend ist) nicht auf. Pichon betonte den Montage-, ja Collagecharakter des über Jahrzehnte hin aus vielen älteren Stücken zusammengeschweißten Riesenwerkes, setzte kräftig erfrischende Kontraste und zeigte ein besonderes Faible für die festlich bewegten, oft sogar tänzerisch inspirierten Teile – beginnend mit dem „Christe eleison“ der beiden Soprane und besonders locker, glücklich-gelöst bis ins Enthusiastische, bei den chorischen Steigerungswellen des „Sanctus“, in die sich schönstens auch der ansatzlos weich gleitende Tenor von Emiliano Gonzalez Toro fügte. Ihm waren neben seinem Baritonkollegen Huw Montague Rendall, der das – für den Protestanten Bach theologisch einigermaßen heikle – „Et in spiritum sanctum“ mit wunderbar fröhlicher Innigkeit sang, und der Altistin Beth Taylor die prägendsten Solo-Begegnungen des Abends zu danken.
Letzterer gelang eine großbogigere, fließende Formung im Kontrast zu ihren Soprankolleginnen Nikola Hillebrand, die an den Phrasenenden oft etwas kurzatmig wirkte, und Xenia Puskarz Thomas, die in ihrem festlich strahlenden „Laudamus“ zwar angemessen enthusiastisch, aber dabei rhythmisch ziemlich freizügig zur Sache ging. In solchen Konstellationen übernahmen gelegentlich die orchestralen Soloinstrumente die emotional-rhetorische Führungsrolle: bei ihr die seraphisch flatternde und schwebende Violine Noah Bendix-Balgleys, bei Christian Immlers „Quoniam“ das geschmeidigst agierende Horn-Fagott-Trio und über den ganzen Abend hin, auch aus dem Ensemble heraus, die prägende, sich in schmerzlich-innige Leidenschaft versenkende Oboenstimme Albrecht Mayers.
Das Tuttispiel des Orchesters und speziell die trotz diskreter Truhenorgel- und Cembalo-Unterstützung zwar immer vital taktfeste, aber wenig eigene Impulse einbringende Continuo-Gruppe mussten gelegentliche Flachstrecken durchlaufen, in denen sich eine von Pichon her spürbare, bisweilen kribbelig nervöse Überspannung nicht etwa in besonders markante Agilität, sondern eher atmosphärisch gedämpfte Mechanik umsetzte.
Bachs Fähigkeit zu tiefen seelischen Erschütterungen
Das war besonders in manchen der von Bach weit ausgesponnenen und öfter im archaisierenden „stile antico“ niedergeschriebenen Kontrapunkt-Setzungen der großen Chorblöcke im „Gloria“ und „Credo“ der Fall. Die sehr sinnstiftend ausgearbeiteten, zunehmend widerhakigen Akzente des „Et in unum Dominum“-Duetts beispielsweise aber ließen bereits erkennen, wie auch ohne die quasi naturgegebene rhetorisch-artikulatorische Schärfe eines originalklanglich orientierten Streicherkörpers mehr Plastizität möglich werden kann – vielleicht eine Frage des schrittweisen Zueinanderkommens, dessen Potential sich schon bei den Folgeaufführungen entspannend auswirken könnte.
In den menschlichen Stimmen hingegen, beim RIAS Kammerchor, lag es bereits diesmal, neben dem architektonischen Vermögen Bachs auch seine Fähigkeit zu tiefen seelischen Erschütterungen auszukristallisieren. Die Art, wie die von Gregor Meyer einstudierten Sängerinnen und Sänger, frei und ungeschützt im Klangraum, den fassungslos traurig verstummenden „Crucifixus“-Schluss oder die geheimnisvolle Verschlingungen und Harmoniewanderungen der in Zweifel und Zagen erfahrenen Verwandlung vor dem „Et expecto“ in leisest zerbrechlichen und dennoch nie schwächlichen Pianissimo-Tönungen artikulierten, übermittelte nicht nur geistliche, sondern auch ergreifende geistige und ästhetische Verheißungen.

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