100 Jahre Willy Fleckhaus: Buchgrafik als optische Umweltgestaltung

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Wer sich ab den späten Sechziger­jahren in Buchhandlungen umschaute, sah auf Tischen und Regalen einheitlich gestaltete Bücher in kleinen Formaten, auf deren Umschlägen klare Farben dominierten: darunter die „Bibliothek Suhrkamp“ mit Klassikern der Weltliteratur un­ter glänzendem Weiß mit farbigen Querstreifen (ab 1958), die legen­däre „edition suhrkamp“ mit Texten zur Poesie und Theorie in Regen­bo­genfarben (ab 1963) und Bände der Reihe „suhrkamp taschenbuch wissenschaft“ mit farbigen Titeln auf schwarzem Karton (ab 1973). Mit weit mehr als 2500 Titeln pro ­Reihe, zum Teil in Hundertausenden von Exem­plaren verbreitet, haben sie alle anderen Verlags­reihen hinter sich gelassen.

 Die seit 1963 herausgegebene Reihe edition suhrkamp mit dem von Willy Fleckhaus entworfenen Einband wurde zum Markenzeichen des Suhrkamp Verlags.In allen Regenbogenfarben: Die seit 1963 herausgegebene Reihe edition suhrkamp mit dem von Willy Fleckhaus entworfenen Einband wurde zum Markenzeichen des Suhrkamp Verlags.Helmut Fricke

Was im Handel über Jahrzehnte hinweg großflächig präsent war, fand sich wegen der geringen Preise in den Regalen unzähliger jugendlicher Leser wieder. Nicht zufällig hat Michael Krüger, der nie studierte und später bei Hanser zu einem der wichtigsten Verlagsleiter der Bundesrepublik wurde, die „edition suhrkamp“ in seinem Buch „Unter Dichtern“ (2025) als „meine Universität“ bezeichnet. Bevor George Steiner 1978 in einer Besprechung der Werke Theodor W. Adornos den bald darauf zum Slogan gewordenen Begriff der „Suhrkamp-Kultur“ prägte, waren die auch grafisch markanten Verlagsreihen längst zu ei­nem allgegenwärtigen visuellen Phänomen geworden.

Ein unspezifischer Hinweis

Erfinder dieser farbenfrohen Buchkultur war Willy Fleckhaus. Er wurde am 21. Dezember 1925 im Bergischen Land geboren, fand in der frühen Nachkriegszeit als Zeitschriftenredakteur den Weg zur Grafik und wurde ab Ende der Fünfzigerjahre und mit Eintritt in den Suhrkamp Verlag zum einflussreichsten Buchgestalter seiner Zeit. Doch beschränkte sich Fleckhaus’ Arbeit nicht nur auf Einzeltitel, Werkausgaben und Buch­reihen, sondern umfasste auch die Gestaltung des früheren F.A.Z.-Magazins, Plakate, Prospekte und Broschüren, und all das verband sich zu einem grafischen Gesamtkunstwerk, wie der von Hans-Michael ­Koetzle und Carsten Wolf 2017 herausgegebene Katalog zu einer Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst in Köln anschaulich zeigt.

 Willy Fleckhaus, aufgenommen um das Jahr 1970Gute Buchgestaltung im Handumdrehen: Willy Fleckhaus, aufgenommen um das Jahr 1970Will McBride Estate

Allerdings ist weder hier noch in den verschiedenen Publikationen des Suhrkamp-Forschungskollegs am Deutschen Literaturarchiv in Marbach (zuletzt erschien 2024 ein Heft der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ mit dem Titel „Unternehmen Unseld“) danach gefragt worden, in welcher Tradition die Arbeiten von Fleckhaus stehen. Denn ein singuläres Phänomen waren sie keineswegs, und der häufig bemühte Hinweis auf eine Nähe zum Bauhaus ist zu unspezifisch, weil Farbe und Bücher dort nur eine untergeordnete Rolle spielten.

Die Herkunft seiner Arbeit

Anhaltspunkte liefert die Gestaltung der Zeitschrift „Twen“, mit der Fleckhaus Ende der Fünfzigerjahre auf das Bedürfnis nach gesellschaft­lichem Wandel reagiert hat. Hier verwendete er Schwarz-Weiß-Fotografien, um das Aufbegehren der jungen Generation in Mode und Lebensformen anschaulich zu machen, bevor dieser Protest von der Studentenbewegung ins Politische gewendet wurde. Anregungen bezog Fleckhaus von der experimentellen Fotografie der späten Zwanzigerjahre, die in den Fotomontagen von John Heartfield einen Höhepunkt hatten.

 Die Gestaltung der regulären Taschenbuchreihe geht auf einen von 1973 zurück.Fleckhaus prägte mit seinen Entwürfen die Suhrkamp-Kultur: Die Gestaltung der regulären Taschenbuchreihe geht auf einen von 1973 zurück.Suhrkamp

Auch bei der Verwendung von Farben, die auf Stimmungen positiven Einfluss nehmen sollte, orientierte sich Fleckhaus an Protagonisten der frühen Moderne. Zwar hat der 1983 gestorbene Gestalter keine Schriften veröffentlicht, in der er sich mit Vorläufern auseinandersetzte, aber in einem 1973 gehaltenen Vortrag vor Buchhändlern in Basel ist er auf die Herkunft seiner Arbeit eingegangen. Fleckhaus berief sich damals auf den Schweizer Max Bill, der 1951 Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung in Ulm und ab 1953 für mehrere Jahre deren Direktor war, nennt aber – neben dem am Bauhaus lehrenden Wassily Kandinsky – auch Piet Mondrian, durch dessen farbige Gemälde in geometrischen Formen die Ideen der niederländischen Stijl-Bewegung bekannt wurden.

Bill, Mondrian, Taut

Über die Kontakte zur Ulmer Hochschule heißt es in dem Vortrag: „Bill lud mich ein, ihn zu besuchen. (...) Ich war fasziniert von seiner Ordnung, seinen Harmonien; er verklärte den einfachsten Gegenstand, das Quadrat und die Kurven. Er ging über das hinaus, was Mondrian erfand, was Kandinsky bewegte. Das absolut Schöne, mit den einfachsten Mitteln!“ Das sind nur wenige, aber auch vielsagende Stichworte zu einer ästhetischen Tradition, die durch den Nationalsozialismus in Deutschland unterbrochen und in den Fünfzigerjahren in Ulm wiederbelebt worden war.

Wie später Fleckhaus, so hatten auch die Vertreter der Stijl-Bewegung ab den Zwanziger­­­jahren geometrische Formen in Grundfarben verwendet, um die Umwelt neu zu gestalten, wie in deren Schriften betont wird. Wer die zu Kult­objekten gewordenen Gemälde, Möbel und Gebäude von Mondrian, Gerrit Rijtfeld oder J. J. P Oud anschaut und Bände der „edition suhrkamp“ danebenlegt, wird Gemeinsamkeiten im ästhetischen Ausdruck feststellen, die auf Prinzipien der Serialität, Variabilität und Farbigkeit basieren.

Schon vor der regulären Taschenbuchreihe bekam „suhrkamp taschenbuch wissenschaft“ sein unverwechselbares Aussehen.Schon vor der regulären Taschenbuchreihe bekam „suhrkamp taschenbuch wissenschaft“ sein unverwechselbares Aussehen.Suhrkamp

Personelle Verbindungen spielen bei diesen Kontinuitäten eine große Rolle. Bill, der in den Zwanzigerjahren am Bauhaus in Dessau studiert hatte, kannte Mondrian; beide waren Mitglieder der von 1931 bis 1936 bestehenden Künstler-Gruppe „Abstraction-Création“. Schon zuvor hatte Bruno Taut farbige Häuser für Kleinverdiener in serieller Anordnung entworfen, die mit den architektonischen Auffassungen am Bauhaus konkurrierten und in Magdeburg und Berlin realisiert wurden.

Rechtecke in unterschiedlichen Farben

Zentrale Bedeutung hatte für Fleckhaus vor allem Joseph Albers, der von 1920 an am Bauhaus in Weimar arbeitete, 1925 mit der Übersiedelung der Institution nach Dessau zum Meister ernannt wurde und mit der Emigration im Jahr 1933 zu einem der bekanntesten Vertreter des Bauhauses in den USA wurde. Anders als seine ehemaligen Kollegen Walter Gropius, Marcel Breuer und Ludwig Mies van der Rohe setzte Albers seine Ideen nicht als Architektur um, sondern führte die bereits in Deutschland begonnenen Experimente mit Farben in der Malerei weiter.

Das Erscheinungsbild der Bibliothek Suhrkamp geriet so markant, dass der Verlag es auch für ein Notizbuch verwendete, das das Aussehen der Reihe imitierte.Das Erscheinungsbild der Bibliothek Suhrkamp geriet so markant, dass der Verlag es auch für ein Notizbuch verwendete, das das Aussehen der Reihe imitierte.Frank Röth

In den frühen Fünfzigerjahren begann Albers mit der Arbeit an seiner berühmt gewordenen Bilderserie „Homage to the Square“, bei der er Rechtecke in unterschiedlichen Farben kombinierte. In der Einführung zum Katalog einer umfassenden Retrospektive zu Albers’ Werken, die 1988 am Guggenheim Museum in New York gezeigt wurde, hat Nicolas Fox Weber auf die Nähe dieser Farbstudien zu Mondrian hingewiesen. Da Albers 1954 und 1955 Gastprofessor an der Ulmer Hochschule für Gestaltung war, waren seine Ideen auch Bill und dessen Mitstreitern bekannt.

Trotz der Geraden

Fleckhaus hat zwar den Namen von Albers, so weit überschaubar, nie erwähnt, für die Umschläge von Büchern des Suhrkamp Verlags ab den frühen Sechzigerjahren aber ebenfalls farbige Quadrate verwendet, so neben kleineren Reihen und der Zeitschrift „Kursbuch“ auch für die „edition suhrkamp“. Deren Bände hatten bis zur Nummer 1000 ein Format, das optisch zwei Quadraten ähnelte: ein schriftloses farbiges im oberen Teil und ein weiteres mit gerasterten Angaben zu Autor, Titel und Verlag im unteren.

Albers selbst machte seine Überlegungen zur Wirkung von Farben mit dem 1963 erschienenen Buch „Interaction of Color“ bekannt, das später auch ins Deutsche übersetzt wurde (zuletzt 2023 bei Hatje Cantz). Von den Fünfzigerjahren an malte er darüber hinaus eine Serie von Bildern mit dem Titel „Structural Constellation“, die Fleckhaus für Umschläge von Suhrkamp-Büchern ­verwendet hat, darunter für Siegfried Kracauers ­Essay-Sammlung „Das Ornament der Masse“ und Walter Benjamins „Ursprung des deutschen Trauerspiels“. Als Quelle wird im Impressum ein Buch von Albers genannt, das 1961 unter dem ­Titel „Trotz der Geraden“ im Schweizer Benteli Verlag erschienen ist.

Er gab ihnen das Gesicht

Doch Einheitlichkeit und Farbigkeit waren natürlich nicht allein die Grundlage der enormen Verkaufserfolge, die die Suhrkamp-Reihen ab den Sechzigerjahren erzielten. Ebenso wichtig waren die Innovations- und Risikobereitschaft des Ver­legers Siegfried Unseld, die Anregungen durch hochgebildete Berater wie den Schriftsteller und Herausgeber Hans Magnus Enzensberger sowie die Umsicht von Lektoren wie Günther Busch (für die „edition suhrkamp“) und Friedhelm Herborth (für „suhrkamp taschenbuch ­wissenschaft“).

Erst durch solche Zusammenarbeit konnten unter anderem Autoren der Zwanziger- und Dreißigerjahre, die in den Fünfzigerjahren kaum mehr bekannt waren, wie Walter Benjamin oder Ludwig Wittgenstein, junge Schriftsteller mit sperrigen Texten wie Uwe Johnson oder Peter Weiss, Philosophen mit umfangreichen Werken, wie Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas, sowie schwierige Schriftsteller von Weltrang wie Proust, Beckett oder Joyce zu Bestsellerautoren mit Millionenauflagen in einheitlich gestalteten kleinen Buchformaten werden. Fleckhaus gab ­ihren Büchern in Deutschland das Gesicht.

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